Deutschland und die Welt (1)

An dieser Stelle möchte ich den Versuch unternehmen, mehrere Diskussionsstränge im Zusammenhang zu sehen, die in den letzten Tagen auf unserer Seite angezupft wurden, mal mit dem Ziel, sie auseinander zu dröseln, mal mit dem Ziel, sie zu verknüpfen.

Wenn Karl sich als „Landkartennarr“ bezeichnet, finde ich das rührend und zugleich kaum nachvollziehbar. Meine Ignoranz für geografische Phänomene schreit zum Himmel, ich kann mir Städtenamen und die Zugehörigkeit von Ländern zu Kontinenten einfach nicht gut merken; entsprechende Fakten und Begriffe hinterlassen keine dauerhaften Spuren in meinem Gedächtnis. Im Gegensatz dazu memoriere ich Texte mit literarischem oder zumindest ästhetisierendem Anspruch quasi beim Einatmen, oft gegen meinen Willen. Heute morgen beispielsweise ist mir der gesamte Text eines alten Schlagers eingefallen, den ich nie bewusst gehört, geschweige denn geschätzt habe. „Jeder Scheich war schon einmal / im Café Oriental …“ mit dem banalen Mittelteil: „Eine war besonders schön / im Café Oriental. Sie sah aus wie die Loren / im Café Oriental. Herrlich war ihr Dekolleté / sie war schlank und war schmal / und so braun wie der Kaffee / im Café Oriental.“ Bei der Gelegenheit fiel mir auch gleich „Weiße Rosen aus Athen“ mit allen Strophen ein und das wunderbar ironische Lied der Comedian Harmonists „In der Bar zum Krokodil / am Nil, am Nil, am Nil, / verkehrten ganz incognito / der Joseph und der Pharao. Dort tanzt man nur dreiviertelnackt im Rumba- und Dreivierteltakt…“ Was meine Merkfähigkeit anfeuerte,waren offenbar nicht die exotischen Sehnsuchtsorte, sondern die imaginierten zwischenmenschlichen Situationen. So war das schon immer: Fremde Länder, aber genauso auch fernere Gegenden in Deutschland, erschlossen sich mir nicht über ihre geografische Berühmtheit, nicht einmal über ihre pure landschaftliche Schönheit, sondern nur über konkrete Begegnungen mit Menschen oder zumindest Texten über Menschen. Ich nehme an, dass ich allein im Rahmen meines dienstlichen Tätigkeitsspektrums mehr Länder kennengelernt habe als Karl; und gelegentlich gebe ich in launiger Runde eine Anekdote nach der anderen zum Besten – aber sobald ich nach der geografischen Lage der Orte gefragt werde, in denen diese Anekdoten spielen, gerate ich ins Stottern. So kann ich auch mit den Erzählungen über ehemalige deutsche Kolonien und zu Deutschland gehörenden Gebieten wenig anfangen; sie berühren meine Seele nicht – es sei denn, ich fühle mich mit konkreten Menschen und ihren Schicksalen in der betreffenden Region persönlich verbunden. Solche Verbundenheit fühle ich oft auch jenseits der Übereinstimmung von Nationalität, Religion, Hautfarbe und sogar Sprache.

Was Karls Vorliebe für die Silbermedaille und das Treppchen unterhalb des Siegerpodestes betrifft, so kann ich sie nicht nur verstehen, sondern habe sie des öfteren auch praktiziert. Ich habe mich für ehrenamtliche Funktionen immer nur eine gewisse Zeit aufstellen lassen, gemäß meiner inneren Uhr. Als ich nach vier Wahlperioden nicht mehr für den Akademischen Senat kandidierte, wurde das von mehreren Senatoren laut bedauert: Ich hätte den Platz doch sicher gehabt! Meine spontane Antwort: „Wer nicht in die zweite Reihe zurücktreten kann, hatte vermutlich in der ersten Reihe auch nichts zu suchen.“ Vielleicht hätte ich mir diesen Satz verkniffen, wenn ich gewusst hätte, welche Diskussionen ich damit auslöste. Einige Kollegen fühlten sich ohne mein Zutun persönlich getroffen. Dass mir die zweite Reihe meisten besser gefiel – man könnte auch sagen: der Beobachtungsposten, der oft mit einer ironischen Distanz verbunden ist -, habe ich ziemlich früh gemerkt.

Wie kriege ich jetzt die Kurve zu Deutschland und der Weltpolitik? Vielleicht so: Ich empfinde den gewissen Mangel an Nationalstolz, der uns Deutschen nachgesagt wird, eher als einen verkappten Vorteil – so ähnlich wie den zweiten Platz des Beobachters aus kritischer Distanz. Vielleicht zeugt ja diese gewisse Distanz von mehr Liebe und Verbundenheit zu unserem Land als der auf Verdrängung und Überhöhung basierende Stolz auf etwas, an dem man keinen eigenen Verdienst hat und wo man durch eine glückliche Fügung hineingeboren worden ist. Diese Art von Stolz, den man aus der Tatsache saugt, Teil einer übergeordneten Struktur zu sein, hat doch letzten Endes mit der Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen zu tun. Solange solche Kompensationsrituale nicht den Frieden der Mitwelt gefährden, habe ich kein Problem damit – aber die gegenwärtige Weltlage ist ja gerade dadurch gekennzeichnet, dass die verschiedenen Begehrlichkeiten auf das Siegertreppchen zu eskalieren drohn und mit (fast) allen Mitteln befriedigt werden wollen. Dazu morgen mehr.

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